The Hours After

Im Jahr 2000 schreiben Gerda und Kurt Klein gemeinsam ein weiteres Buch, in dessen Mittelpunkt die Briefe stehen, die sich die beiden im ersten Jahr ihrer Beziehung schrieben. Gerda beschreibt im Prolog, wie diese Briefe wieder auftauchten:

„Den staubigen, verbeulten Karton, den Kurt da aus unserer Garage schleppte, hatten wir schon mal gesehen. Die ausgefranste graue Linie um seinen Boden herum stammte von Wasser und belegte, dass er eine sommerliche Überflutung unseres Kellers in Buffalo nur knapp überstanden hatte. Der brüchige und zerbeulte Deckel war gezeichnet von allerlei Krimskrams, den man über Jahrzehnte hinweg sorglos in dem niedrigen Dachboden aufgehäuft hatte, den man nur durchkriechen konnte. Es handelte sich um abgelegtes Zeug, das sich da über einen Zeitraum von vierzig Jahren hinweg angesammelt hatte. Überlebt hatte es dort nur, weil wir vor unserem Umzug nach Arizona im Moment nicht entscheiden konnten, ob damit in der Zukunft noch mal etwas anzufangen wäre. Und weil uns damals – wie eigentlich immer – die Zeit fehlte, Überflüssiges auszusortieren, kam das Zeug also mit auf die Reise nach Westen. Da war es nun, verstaut auf einem niedrigen Regal im fernsten Winkel der Garage, unter ähnlichen Sachen, die auf eine letzte Verwendung warteten. An das Tageslicht kam es nur, als Kurt dort mal ein Garnknäuel suchte.

Ich kann mich erinnern, dass der Karton Briefe enthielt, die wir einander kurz nach Kriegsende geschrieben hatten. Fast vom ersten Tage an, als wir uns kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in der kleinen tschechischen Stadt begegnet waren, standen sie für unser vorsichtiges einander Abtasten um heraus zu finden, was uns trennte; denn wir waren ja nicht miteinander vertraut, danach halfen sie zu überbrücken, was uns trennte, bis wir schliesslich zueinander fanden und etwa ein Jahr später heirateten.

Als ich viele Jahre früher einmal etwas auf dem Dachboden suchte, zog ich zufällig einen meiner Briefe heraus. Weil ich seit Jahrzehnten nichts mehr auf Deutsch gelesen hatte, kam mir einiges archaisch, veraltet, wenn nicht übertrieben, vor. Was ich da geschrieben hatte, kam mir nun peinlich vor. Später habe ich da nie mehr nachgeschaut.

Jetzt aber bewegte mich eine Mischung aus Erheiterung und Neugier, als ich in die Tiefe des Kartons griff. Kurt stand da neben mir, und ich vertiefte mich in diese Überbleibsel aus unseren frühen Jahren. Als ich die gewissenhaft gefalteten Seiten aufschlug, kam meine jugendliche unbeholfene Schrift zum Vorschein – nackt und verletzlich in der Nachmittagssonne Arizonas.“

Übersetzung von Bernd Jörg Diebner

Feldlazarett, Volary/Wallern, 16. Mai 1945

Lieber Kurt,

Sie sind wahrscheinlich überrascht, jetzt von mir zu hören – aber, um ehrlich zu sein, Ihr abrupter Abschied heute, der fast schon der Natur der Flucht entsprach, gab mir Anlass zur Sorge. Man könnte sagen: „Das könnten Sie beim nächsten Mal erwähnen, wenn wir uns sehen“, aber die trostlose Atmosphäre hier scheint einen Tiefpunkt erreicht zu haben. Vielleicht hat das mein Gefühl ausgelöst, dass Sie etwas gehört haben, was Sie aufgeregt hat. Ich möchte nicht in Ihre Privatsphäre und Ihre Erinnerungen eindringen. Wenn Sie jedoch das Bedürfnis verspüren, Ihre Ängste zu teilen, werden Sie bei mir volles Verständnis finden. Irgendwie fällt es mir leichter, Ihnen diese Gedanken schriftlich mitzuteilen als im Laufe unserer Gespräche, die so oft unterbrochen werden.

Sie haben mir versichert, dass Sie ein ehrliches Interesse an meinem Leben und meinen Gedanken haben, und wenn das der Fall ist, dann kann ich behaupten, dass Sie Ihre Sorgen und Ihren Schmerz auch mit mir teilen sollten. Ihre Armeefreunde, die die anderen Mädchen besuchten, schienen in einer weitaus ausgelasseneren Stimmung zu sein, als ihr Gelächter diese Station erfüllte. Aber ich glaube nicht, dass diese Unterbrechungen den verletzten Ausdruck in Ihrem Gesicht verursacht haben. Also, mein lieber, tapferer Befreier, ich hoffe, dass Sie trotzdem einen angenehmen Abend hatten, was hier im Moment sicherlich nicht möglich ist. Tatsache ist, ich bin froh, dem Lärm um mich herum zu entfliehen und auf diese Weise Zuflucht zu finden, indem ich Ihnen schreibe.

Sie sagten, dass Sie, seit Sie nach Europa gekommen sind, nicht viel deutsche „Literatur“ gelesen haben, abgesehen von militärischen Depeschen. Es ist also unverantwortlich von mir, Sie mit diesem langen Schreiben zu konfrontieren. Genug davon, und vor allem genug über mich. Nur eine Aussage: Es war Ihr Verständnis, Ihre Fürsorge, die in den ersten, schwierigsten Tagen so enorm geholfen hat. Ich werde Ihnen ewig dankbar sein.

Immer, Gerda.

Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (geringfügig korrigiert von WW)

Eleonorenhain, Sudetenland (etwa fünf Meilen vom Krankenhaus in Volary/Wallern entfernt), 20. Mai 1945

Liebe Gerda,

Sie können vielleicht verstehen, warum sich diese Antwort als eher ungeschickt erweisen könnte. Ich bin aus der Übung und habe das Gefühl, auf dünnem Eis zu laufen. Meine Emotionen müssen voll zur Geltung gekommen sein, um Ihre Besorgnis in diesem Ausmass zu wecken. Deshalb schäme ich mich zuzugeben, dass diese nachdenklichen Momente, die Sie glaubten, festgestellt zu haben, nur auf kumulative (??) Gründe zurückzuführen sind. Man könnte sie am besten als eine Reaktion auf die Gefühle beschreiben, die Sie so gut kennen. Erst jetzt dämmert mir die Endgültigkeit des Schicksals meiner Eltern vollends, nach all den Jahren, in denen ich nach dem kleinsten Strohhalm der Hoffnung gegriffen habe. Und ich sage das, weil ich die uneigennützige Art und Weise anerkenne, mit der Sie versuchen, mir die unumstößlichen Tatsachen zu ersparen. Klingt das sehr pessimistisch? Schließlich haben Sie selbst gesagt, dass wir ehrlich zueinander sein müssen.

Es ist erfreulich zu hören, dass meine lahmen Versuche, Sie von Ihren bitteren Erfahrungen abzulenken, zumindest teilweise durch Erfolg belohnt wurden. Nun haben Sie aber die Rollen getauscht, und ich bin es, der in Ihrer großen Schuld für Ihren Gedankenaustausch steht, der einen seltenen Einblick in mein Leben verraten hat. Ist es bei Ihnen Brauch, immer zu geben, ohne an sich selbst zu denken? Ich kann mir den Protest Ihrerseits, den ich ausgelöst habe, gut vorstellen. Ich schätze, ich sollte Ihnen den Kopf zurechtrücken, ob es Ihnen gefällt oder nicht.

Am besten könnte ich mich mit der deutschen Literatur versöhnen, indem ich mich von Ihnen wieder in sie zurückversetzen lasse. Darf ich sagen, dass dieser Abend dank Ihrer Zeilen und einer fantastischen Übertragung von Liszts Les Preludes fast so anregend war, als hätte ich ihn mit Ihnen auf einer bestimmten Station eines Feldlazaretts mit restriktiven Besuchszeiten verbracht. Dieses Gefühl, mit Ihnen ein Gespräch zu führen, wird ständig verstärkt, denn es vergeht keine Minute, in der ich mich nicht von tausend trivialen Störungen gestört fühle.

Ich verspreche, dass ich von nun an nur noch fröhliche Mienen auf meinem Gesicht tragen werde. Und Sie können dazu beitragen, indem Sie bald wieder schreiben.

Ihr Kurt

Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (geringfügig korrigiert von WW)

Das Buch schildert neben der zentralen Zeit 1945/46 (siehe Gerda & Kurt) in langen Passagen auch Kurts Kindheit und ist schon von daher eine wichtige Quelle. Leider ist dieses Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Auch die amerikanische Version ist nur noch antiquarisch erhältlich. Und die im Original in deutsch geschriebenen Briefe, bis auf die beiden aus dem Buchumschlag hier abgebildeten, sind derzeit nicht verfügbar. Deshalb sind die beiden Briefe vom Mai 1945 hier also vorläufig noch Rückübersetzungen aus dem Englischen.

Die deutsche Sprache

An dieser Stelle eine Bemerkung zu „Sprache und Trauma“.

Im Epilog zu „Nichts als das nackte Leben“ berichtet Gerda von einem mißglückten Radiointerview in Amsterdam. Sie war auf den drängenden Wunsch der hartnäckigen Journalistin eingegangen, das Interview auf Deutsch zu führen.

„Das Interview entpuppte sich als verheerende Erfahrung. Eine lähmende Angst ergriff von mir Besitz, und die Schutzmauern, die das Englische um mich herum gebaut hatte, stürzten ein. Nach kurzer Zeit konnte ich nicht mehr fortfahren. Diese Erfahrung machte mir bewußt, welches Glück ich hatte, dass Kurt von Anfang an darauf bestand, englisch miteinander zu sprechen.  Ich durfte zwar ins Deutsche wechseln, wenn mir Wörter fehlten, er antwortete mir jedoch grundsätzlich auf englisch.“

„Nichts als das nackte Leben“ (S. 363)

Und später:

„Meine Muttersprache war Deutsch. Die Sprache besitzt zweifellos lyrische Schönheit, doch den Nazis gelang es, sie so zu entstellen, daß für mich nur die schrillen, stakkatoartigen Kadenzen geblieben sind, die Unheil verkündeten und Bedrohung bedeuteten.“

(S. 364)

Kurt und Gerda besuchten zwar wohl noch mehrfach Europa, haben aber dabei Deutschland immer gemieden. 


Theaterstück

Das Theaterstück Gerda’s Lieutenant, geschrieben von Ellen Gordon Reeves und Bennett Singer, wurde 2009 von dem Regisseur Leigh Fondakowski, der auch am Theaterprojekt The Laramie Project mitwirkte, auf die Bühne gebracht. Grundlage waren die Liebesbriefe aus dem Buch The Hours After. Gerda Weissmann wurde von Lynn Cohen und Kurt Klein von Lynn Cohens Ehemann Ron Cohen gespielt.

http://www.gerdaslieutenant.com/index.htm